Hitler-Stalin-Pakt: Weg zum Zweiten Weltkrieg

Hitler-Stalin-Pakt: Weg zum Zweiten Weltkrieg
Hitler-Stalin-Pakt: Weg zum Zweiten Weltkrieg
 
Aus den USA waren nicht nur isolationistische Töne zu vernehmen. Präsident Roosevelt wies im Oktober 1937 in einer Rede in Chicago darauf hin, dass die internationale Politik zunehmend der Anarchie entgegentreibe und dass kein Staat davor die Augen verschließen dürfe. Die »Gemeinschaft« der Staaten müsse zur Vermeidung eines allgemeinen Kriegs die Aggressorstaaten »in Quarantäne legen«. Roosevelt reagierte damit auf den Krieg, der in Ostasien wieder aufgeflammt war und den Japan seit dem militärischen Zwischenfall an der Marco-Polo- Brücke bei Peking im Juli 1937 führte. Der Krieg sollte zu der von Japan angestrebten »Neuen Ordnung Ostasiens« führen, die das Washingtoner System endgültig beseitigen sollte.
 
Wie aber sah die von Roosevelt erwähnte »Gemeinschaft« der Staaten aus? Gab es sie überhaupt, wenn man darunter die Fähigkeit zu koordiniertem politischen Handeln versteht? Der britische Premierminister Chamberlain sah die Dinge sehr nüchtern. Von den Amerikanern seien nur schöne Worte zu erwarten, wie sie Roosevelt gerade von sich gegeben habe. In seiner Einschätzung sah sich Chamberlain im November 1937 bestätigt, als die Brüsseler Konferenz, zu der der Völkerbund die von der angespannten Situation im Fernen Osten betroffenen Staaten eingeladen hatte, ohne Ergebnis blieb. Die USA verweigerten sich zu diesem Zeitpunkt noch Sanktionen gegen Japan. Erste Maßnahmen ergriffen sie erst im Juli 1939, als sie den Handelsvertrag mit Japan kündigten. Auch gegen Deutschland sollte diese Waffe eingesetzt werden, indem der 1935 ausgelaufene Handelsvertrag entgegen deutschen Wünschen nicht erneuert wurde. Stattdessen sollte mit dem amerikanisch-britischen Handelsvertrag vom November 1938 demonstriert werden, dass die westlichen Demokratien zusammenstanden. Roosevelt wusste freilich auch, dass die Militärstaaten Japan, Italien und Deutschland nicht wirklich mit den Mitteln einzudämmen waren, die für die westlichen Handelsstaaten charakteristisch waren. Darum kurbelte seine Regierung seit 1938 sowohl die Flotten- als auch die Luftrüstung an.
 
 Britische Appeasementpolitik ohne Alternative
 
Auch in Großbritannien wurde im Rahmen der Doppelstrategie, die Flexibilität gegenüber den expansionistischen Staaten mit der Bereitschaft zur Verteidigung eigener Interessen verband, vermehrt gerüstet, wenn auch nicht mit dem Ziel einer raschen Interventionsfähigkeit auf dem Kontinent. Für Großbritannien zeichnete sich 1937 in aller Schärfe die weltpolitische Überbelastung ab. Sanktionen gegen Japan mit dem Risiko eines Kriegs im Fernen Osten kamen auch darum nicht in Frage, weil aus der Sicht der britischen Regierung die »Versuchung« für die europäischen »Diktatoren« zu groß sein könnte, die Situation auszunutzen, »sei es in Osteuropa oder in Spanien«. Die Befürchtung, bei einer außereuropäischen Eskalation könnten auch die europäischen Verhältnisse außer Kontrolle geraten, war keineswegs abwegig. Hitler bezog die »Schwächung der englischen Position in Ostasien durch Japan« durchaus in seine Überlegungen ein, in denen die militärische Kraftprobe auch mit Großbritannien und Frankreich Ende 1937 immer deutlichere Züge annahm. Die Hinnahme der Aggression im Fernen Osten wurde 1938/39 durch entsprechende Schritte gegenüber Italien und Deutschland ergänzt: Die Annexion Äthiopiens wurde anerkannt, dem »Anschluss« Österreichs und der schrittweisen Auflösung der Tschechoslowakei kein Widerstand entgegengesetzt. Was Großbritannien und Frankreich mit dem Münchener Abkommen im September 1938 immerhin erreichten, war eine Verhandlungslösung der sudetendeutschen Frage. Damit wurde Hitler um seinen Genuss eines Blitzkriegs gegen die Tschechoslowakei gebracht, den er angesteuert hatte.
 
 Hitlers Plan
 
Hitler hatte im Herbst 1938 das frühest mögliche Datum aufgreifen wollen, das ihm für den Beginn der Ostexpansion geeignet schien. In einer von Oberst Hossbach überlieferten geheimen Besprechung hatte Hitler im November 1937 seinen »Entschluss zur Anwendung von Gewalt unter Risiko« möglicherweise schon 1938, spätestens aber 1943/45 mitgeteilt. Nach der Sudetenkrise bekräftigte er vor Pressevertretern, es müsse nun Schluss sein mit der »pazifistischen Platte« und mit der jahrelang betriebenen »Friedenspropaganda«, die man aus außenpolitischen Gründen nicht habe vermeiden können. Sie führe nämlich zu einer »falschen Beurteilung der Zielsetzung dieses Systems«. Der deutsche Diktator sah mit einiger Besorgnis, dass nicht sein Säbelrasseln in Deutschland populär war, sondern Chamberlains Politik der Friedenswahrung. Scheute Hitler 1938 noch die kriegerische Auseinandersetzung, weil Großbritannien damit drohte, militärische Gewaltanwendung nicht hinnehmen zu wollen, so blieb die unverändert beibehaltene britische Haltung 1939 weitgehend ohne Wirkung auf ihn. Hitler setzte darauf, Großbritannien von einer Intervention auf dem Kontinent abhalten zu können.
 
Bis März 1939 wurde zu diesem Zweck versucht, Polen in die deutsche Kriegsplanung zu integrieren. Dem widersetzte sich die Regierung in Warschau, aber nicht, weil sie strikt an den bestehenden Grenzen in Europa festhalten wollte; denn an der Demontage der Tschechoslowakei hatte sie sich ja 1938 sehr wohl beteiligt. Warschau ging es vielmehr in erster Linie darum, sich nicht in die Abhängigkeit von Deutschland zu begeben, sondern im Rahmen der europäischen Politik eine unabhängige Stellung zu behaupten. In Selbstüberschätzung hielt Polen daran auch fest, als es im weiteren Verlauf des Jahres 1939 immer stärker zum nächsten Angriffsziel Deutschlands wurde und sich bis zuletzt sträubte, einer politischen oder gar militärischen Kooperation mit der Sowjetunion zuzustimmen.
 
 Die Westmächte garantieren die Unabhängigkeit Polens
 
Im Sommer 1939 verhandelten Großbritannien und Frankreich mit der Sowjetunion, um sie auf der Seite des Westens zu halten. Ziel der Gespräche war der Abschluss eines Beistandspakts mit der Sowjetunion. Bereits am 31. März 1939 hatten die beiden Westmächte die Unabhängigkeit Polens garantiert. Diese weit reichende Erklärung sollte eventuelle Verhandlungen mit Deutschland über eine Teilrevision von Grenzen etwa in der Danzigfrage keineswegs ausschließen. Auch die Verhandlungen mit der Sowjetunion, die im August 1939 kurz vor dem Abschluss standen, als die Sowjetunion das für sie günstiger erscheinende deutsche Angebot akzeptierte, galten nicht der »Einkreisung« Deutschlands. Sie waren vielmehr als Warnung für Hitler gemeint, vom Einsatz deutscher Truppen abzusehen. Priorität hatte aus britischer Sicht auch 1939 die Entspannung der Beziehungen zu Deutschland, was wiederum der sowjetischen Seite nicht verborgen blieb und ihre stets gegenwärtige Angst vor einer antisowjetischen Einheitsfront der kapitalistischen Staaten schürte.
 
 Der Hitler-Stalin-Pakt
 
Die Sowjetunion — bis dahin viel geschmähter und zum Teil auch gefürchteter Außenseiter in der europäischen Politik — rückte 1939 in eine gewichtige Position. Stalin signalisierte im März 1939, man werde für niemanden die »Kastanien aus dem Feuer« holen und sei nach allen Seiten hin offen, um das Hauptziel sowjetischer Politik, die Wahrung der nationalen Sicherheit, erreichen zu können. Stalins Flexibilität zeigte an, dass die sowjetische Außenpolitik mit dem neuen im Mai 1939 ernannten Außenminister Molotow an der Spitze nicht mehr einseitig auf die europäischen Westmächte oder gar den Völkerbund ausgerichtet war. Der ungefähr zum selben Zeitpunkt gereifte britische Entschluss, bisherige Barrieren gegenüber der Sowjetunion abbauen zu wollen, traf also in Moskau auf nur bedingt offene Ohren. Ausschlaggebend war, dass der deutsche Außenminister von Ribbentrop mit seinem Konzept eines Kontinentalblocks von Japan bis Spanien unter Einschluss der Sowjetunion die bisher verfolgte strikt antisowjetische Linie der deutschen Politik verließ. Unter dem Eindruck schwindender Optionen stimmte auch Hitler im August 1939 der Absicht zu, die sowjetische Karte zu spielen. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, verhinderte im Kriegsfall einen Zweifrontenkrieg. Darüber hinaus legte ein geheimes Zusatzprotokoll unter Aufteilung Polens die deutsche und sowjetische Interessensphäre fest. Dass Hitler dieser überraschenden Abkehr von der bisherigen ideologischen Festlegung zustimmte, hing mit einer doppelten Einengung seines Spielraums zusammen. Zum einen erwies sich Großbritannien als eine Großmacht, die ihre Rüstung vorantrieb und eine weitere gewaltsame Expansion Deutschlands nicht hinnehmen wollte. Zum anderen geriet Deutschland aufgrund seiner Hochrüstung, die 1938 noch einmal gesteigert worden war, in einen immer merklicher werdenden finanziellen und wirtschaftlichen Engpass. Hitler erklärte im Mai 1939, man müsse Polen »bei erster passender Gelegenheit« angreifen. Danzig sei »nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraums im Osten und Sicherstellung der Ernährung.« Da der Außenhandel unter dem Primat der Rüstung stand und nicht die erforderlichen Importe erbringen konnte, blieb nur, wie Hitler im August 1939 betonte, ein Ausweg: die Auslösung des lange geplanten Kriegs. »Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen handeln.« Krieg als Beutekrieg hieß die Devise. Mit der Sowjetunion als Rohstoff- und Nahrungsmittellieferant konnte die erste Phase des europäischen Kriegs entfesselt werden. In der nächsten Etappe wollte Hitler wieder zu seinem alten Objekt zurückkehren, zur Unterwerfung und Ausbeutung der Sowjetunion. Die sensationelle Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt schlug wie eine Bombe ein — nicht zuletzt auch bei den deutschen Kommunisten, die sich im Widerstand gegen das NS-Regime befanden. In London hatte man einen Rückzug der Sowjetunion in die Isolation für möglich gehalten, nicht aber mit einer deutsch-sowjetischen Annäherung gerechnet.
 
Die Entscheidung über Krieg und Frieden aber lag weder in Moskau noch in London oder Paris, sondern allein in Berlin. Mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 war sie gefallen. Polen erhielt zwar keine direkte Hilfe von den westeuropäischen Großmächten. Aber nach Ablauf eines Ultimatums befanden sich Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 mit Deutschland im Kriegszustand.
 
Prof. Dr. Gottfried Niedhart
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Weltkrieg, Zweiter: Blitzkrieg, die erste Phase des Kriegs in Europa
 
 
Maser, Werner: Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg. Taschenbuchausgabe München 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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